Aber wenn nun doch etwas los ist? fragte er sich dann, als er den Schlüsselbund schon in die Hosentasche geschoben hatte und sich anschickte, die Tür zu öffnen. Aber dann mußte er über sich selbst den Kopf schütteln. Als würde ernsthaft jemand um Mitternacht in der stockfinsteren Leichenhalle herumstehen und kopieren!
Henry hätte reichlich Zeit gehabt, sich zu verstecken. Er hatte nur keine Lust dazu.
In dem Augenblick, in dem der Pfleger als Silhouette in der offenen Tür auftauchte, eine Hand nach dem Lichtschalter ausgestreckt, packte Henry ihn an der Knopfleiste seines Kittels, zog ihn ins Zimmer und schloß die Tür.
Gellend dröhnte der Hunger in Henrys Ohren. Vickis Gegenwart hatte die Fesseln gelockert, in die Henry ihn geschlagen hatte, die drückende Verzweiflung und der Blutgeruch im oberen Teil des Krankenhauses hatten noch zusätzlich daran gezerrt. Nur der Selbsterhaltungstrieb verhinderte das Schlimmste. Henry schleuderte den ungebetenen Gast auf einen der Schreibtische.
Im Zimmer war es nicht vollständig dunkel: An verschiedenen Geräten glommen die Standby-Lämpchen, und über der Tür leuchtete matt ein Licht, das den Ausgang markierte. Kevin sah ein blasses Oval über sich, ein Gesicht. Er fühlte sich in den unergründlichen Tiefen dunkler Augen versinken und unterdrückte einen Schrei, als eine kalte Stimme ihm Schweigen befahl.
Starke Finger - eiskalt und doch glühend - griffen nach seinem Handgelenk; Gefühle rasten seinen Arm hinauf, im Gleichklang mit seinem Puls, und dann fing sein Herz an, noch fieberhafter zu rasen. Sein Atem wurde schneller. Das mochte Furcht sein - oder etwas sehr viel Finstereres.
Er verstand nichts, als das blasse Gesicht verschwand und dieselbe kalte Stimme murmelte: „Und ihr habe ich kindisches Verhalten vorgeworfen." Als das Gesicht erneut auftauchte und die Stimme ihn anwies, alles zu vergessen, gehorchte er nur allzugern.
Kurz nach Henry war auch Tony gegangen, und gegen zwei Uhr hatte Vicki Celluci zu Bett geschickt. Bis auf eine kleine Lampe in Form eines Halbmonds, die den Eingangsbereich beleuchtete, waren alle Lichtquellen der Wohnung gelöscht. Durch die offenen Vorhänge drang die Stadt ins Wohnzimmer, eine Stadt, die den Bewohnern der Nacht jegliche Dunkelheit und alles, was auch nur annähernd an Dunkelheit erinnerte, vom Leibe hielt. Vicki hatte sorgfältig die ungeöffnete Post zweier Tage auf einen Stapel gelegt und beiseite geschoben, saß nun am Mahagonischreibtisch, starrte auf ein leeres Blatt Papier und wartete auf Henry.
Bald würde er kommen; mußte er kommen, wenn er ihr auch nur die geringste Chance geben wollte, den Autopsiebericht zu lesen und ein oder zwei Schlüsse daraus zu ziehen, ehe die Sonne aufging.
Solange Vicki sich darauf beschränkte, auf Henry zu warten, ging es ihr prima. Wenn sie anfing, darüber nachzudenken, was Henry war, färbten sich all ihre Gedanken knallrot.
Vampir.
Aber er war immer Vampir gewesen - er war nicht derjenige, der sich geändert hatte.
Vicki spielte an dem schweren Füllfederhalter herum, den sie in einer der Schreibtischschubladen gefunden hatte, drehte das glatte, schwarze, schwere Schreibgerät in den Händen, und die Wiederholung der immer gleichen Bewegung schien sie ein wenig zu beruhigen.
Gut. Ich bin nicht mehr, was ich war, aber ich bin immer noch die, die ich war. Ich habe damals die Grenzen akzeptiert, die meine Augenkrankheit mir setzte - vielleicht nicht gerade mit Anmut und Würde - wie sie sich ehrlicherweise eingestehen mußte - aber ich habe sie akzeptiert. Ich habe mich durch diese Grenzen nicht hindern lassen, mein Leben so zu leben, wie ich es wollte. Ich bin hier, um einen Mörder zu finden und werde nicht zulassen, daß Henry Fitzroy mir in meine Arbeitsweise hineinredet. Er ist mein Freund, und wir werden uns benehmen wie Freunde, und wenn ich ihn dafür in Stücke reißen und mich an seinen dampfenden Eingeweiden ergötzen muß.
Der Federhalter zerbrach in ihren Fingern.
„Verdammte Scheiße!"
Heftig atmend konnte sich Vicki gerade noch davon abhalten, die Einzelteile einfach in die Gegend zu schleudern und ein ganzes Zimmer voller ziemlich teurer Polstermöbel mit Tinte zu tränken. Der Kampf um Beherrschung hatte sie so angestrengt, daß sie am ganzen Körper zitterte. Vorsichtig legte sie beide Füllfederhalterhälften auf den Tisch, sprang auf und versetzte ihrem Stuhl einen heftigen Fußtritt.
Während eine kleine Stimme in ihrem Kopf verwundert fragte, was das nun wieder gewesen sein sollte, eilte Vicki zur Tür: Der Hunger hatte sein